In der Rede zum Volkstrauertag ruft Bürgermeister Frank Ulrichs zu Respekt, Toleranz und Mitgefühl auf

Das Mahnen vor Kriegsgrauen aufrechterhalten, sei aktueller denn je. Fotos: Stadt-Norderney

Norderney Der Volkstrauertag habe in der vergangenen 30 Jahren eine Wandlung vollzogen. Er sei daher nicht nur eine Rückschau auf vergangene Kriege und deren Opfer, sondern richte sich ebenso auf die Gegenwart und die Zukunft. Mit dieser Kernaussage unterstrich Bürgermeister Frank Ulrichs gestern in seiner Ansprache zum Volkstrauertag in der Kapelle des Norderneyer Friedhofes die Aktualität des Gedenktages in einer globalisierten Welt.

„Es reicht ein Blick in die Nachrichten, und wir sehen die Bilder aus Kriegsgebieten, die Verzweiflung von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, und die Wunden, die nicht nur in Gebäuden und Straßen, sondern auch in den Seelen der Betroffenen entstehen – sei es in Europa, im Nahen Osten, in Afrika oder in anderen Regionen auf unserem Globus“, formulierte Ulrichs.

Ein Tag des lebendigen Erinnerns und des Mahnens

Man habe sich versammelt, nicht nur, um der unzähligen Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken – all jener, die durch grausame Narben der Geschichte zu früh aus dem Leben gerissen wurden, oder die Verfolgung, Flucht und Schmerz erfahren mussten. Menschen, die durch Hass und Feindschaft ihr Leben verloren haben – Soldaten und Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder.

Man habe sich auch versammelt, um zu mahnen: „Denn heute ist kein Tag des Vergessens, kein Tag der Gewöhnung. Heute ist ein Tag des lebendigen Erinnerns und der Reflexion, ein Tag, der uns auffordert, die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte zu beleuchten – nicht nur mit Trauer, sondern auch mit einem tiefen Bewusstsein für die Verantwortung, die diese Erinnerungen mit sich bringen“, so Ulrichs.

Im Folgenden beleuchtete der Bürgermeister die Entwicklung des Gedenktages auf Norderney. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs seien auf der Insel Überlegungen aufgekommen, wie der Gefallenen gedacht werden konnte, denn Norderneyer Familien hätten den Verlust von 138 Vätern und Söhnen sowie der „freiwilligen Kriegsschwester“ Elise Kolbe zu beklagen gehabt, die mit nur 24 Jahren am 15. November 1918 im Lazarett verunglückte. Ihre Namen sind auf dem Ehrenmal verzeichnet, das schließlich 1929 auf dem Wall der Napoleonschanze eingeweiht wurde.

Von der Napoleonschanze zum Horst-Wessel-Hain

„Doch nur vier Jahre nach der Aufstellung des Denkmals änderte sich durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten die auf Mahnung und Versöhnung gerichtete Ausrichtung des Volkstrauertages. Propagandaminister Joseph Goebbels übernahm ab 1934 die Gestaltung des Volkstrauertags – anstelle des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Ein verbrecherisches Regime nutzte den Volkstrauertag für seine eigenen Zwecke und stellte nicht mehr die Trauer um die Opfer in den Mittelpunkt, sondern verherrlichte den Tod für ,Helden‘ und propagierte dieses Heldentum bis zum Tod. Auch auf Norderney fand eine solche Umdeutung statt. Unsere jüngst aufgewertete Napoleonschanze wurde vor genau 90 Jahren von den Nationalsozialisten zum Horst-Wessel-Hain umbenannt; abends, am 9. November 1934, wurde dort ein Stein für den ,unbekannten SA-Mann‘ eingeweiht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Stein in der Napoleonschanze belassen, lediglich die Hakenkreuze und der Spruch wurden entfernt. Der große quaderförmige Stein findet sich noch heute neutralisiert direkt an der Waldkirche“, so die historische Rückschau.

Die Erinnerungen der Kriegsschrecken verblassen zunehmend in der Gesellschaft und daher sei es so wichtig, dass sich auch nachkommende Generationen für das Gedenken an das Grauen des Krieges einsetzen, denn die Jugend sei die Zukunft der Gesellschaft und es läge in der jetzigen Verantwortung, jungen Menschen den Wert von Frieden und Menschenrechten nahezubringen.

„Die aktuellen Entwicklungen in der Welt sind mehr als nur ein Alarmsignal“, mahnte Ulrichs. „Der Krieg in der Ukraine, der seit fast drei Jahren die täglichen Medien und damit auch unser Leben und unser Empfinden beherrscht, erinnert uns in fast unerträglicher Weise daran, dass die territoriale Integrität und die Selbstbestimmung von Nationen heute genauso bedroht sind wie vor 100 Jahren. Damit nicht genug, erschütterte uns im Oktober 2023 die Nachricht von dem beispiellosen Terrorangriff der Hamas auf Israel und seine Zivilbevölkerung. Dieser führte zu einer Eskalation der Gewalt in Israel und den Palästinensergebieten und entfachte seitdem eine Konfliktspirale in der gesamten Region, die bis heute anhält und das Leben unzähliger Menschen ausgelöscht hat und fortan bedroht.“

Humanitäre Pflicht, den Menschen zu helfen

Der Volkstrauertag sei auch ein Tag, an dem man sich daran erinnern solle, dass es eine humanitäre Pflicht sei, den Menschen zu helfen, die aus der Ferne kommen, da sie in ihrer Heimat keinen Frieden finden würden.

„Parallel zu diesen humanitären Herausforderungen erleben wir in vielen Teilen der Welt einen besorgniserregenden politischen Trend: den Rechtsruck, das Wiedererstarken nationalistischer und populistischer Bewegungen, die oft auf Ausgrenzung, Intoleranz und Hass basieren“. So zeige die Forderung einer „erinnerungspolitischen Wende“, wie sie der Faschist Björn Höcke jüngst formulierte, deutlich, wie wichtig es heutzutage sei, die Mahnung an die Schrecken des Krieges als Verpflichtung zu sehen.

Es sei nicht nur ein Tag des Trauerns, schloss Bürgermeister Frank Ulrichs seine Rede. „Sondern auch Tag des aktiven Engagements für eine friedlichere Welt. Jeder Einzelne von uns kann einen Beitrag leisten, indem er im eigenen Umfeld Respekt, Toleranz und Mitgefühl lebt. Es sind die kleinen Taten im Alltag, die unsere Gesellschaft stärker und friedlicher machen.“

Bevor es zu den Kranzniederlegungen ging, bedankte sich Ulrichs bei den anwesenden Vertretern der Freiwilligen Feuerwehr Norderney, der Reservistenkameradschaft, der DRK-Ortsgruppe und der Bläsergruppe Norderney.