Geheimnissen der Muscheln auf der Spur
Seit 1994 begeben sich zweimal im Jahr Experten und Freiwillige ins Norderneyer Wattgebiet, um den Geheimnissen der dortigen Fauna auf die Schliche zu kommen.
Norden/Norderney – Damit diese Forschungsarbeit einen nicht kalt lässt, ist derzeit gut einpacken Pflicht: Zweimal im Jahr untersuchen Biologen des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) die tierischen „Bewohner“ der Lütetsburger Plate. Die Expedition zur Muschelbank im Norderneyer Rückseitenwatt und die spätere Untersuchung der entnommenen Proben gibt Aufschluss über den Zustand der dort lebenden Miesmuscheln und Austern. Die aktuelle Pandemie stellt die Forscher dabei vor Herausforderungen.
„Mikroskopisch klein sind die Gegenstände unserer Untersuchung nicht“, sagt Jette Kondziolka, während sie mit einem Messer behutsam Seepocken von einer handgroßen Auster entfernt. Im Gegenteil: Auf die mit bloßem Auge erkennbare und damit „makroskopische“ Wirbellosenfauna (Makrozoobenthos) haben es die junge FÖJlerin und ihre Kolleginnen in dieser windigen Herbstwoche abgesehen (FÖJ = Freiwilliges ökologisches Jahr; Anm. d. Red.). Und das bedeutet: waschen, schrubben und vermessen. Ausnahmsweise draußen, dick eingepackt – und hin und wieder gewärmt von den Strahlen einer gnädigen Herbstsonne. Denn: „Angesichts der oftmals engen räumlichen Bedingungen ist Corona auch für die Forschung eine echte Herausforderung“, weiß Kondziolka.
Nach dem pandemiebedingt nach draußen verlegten Reinigen und Sortieren des Probenmaterials geht es für Mensch und Muscheln weiter mit der wissenschaftlichen Untersuchung: „Unter Wahrung der Abstandsregeln führen wir im späteren Verlauf spezifische Analysen der gefundenen Arten durch – zum Beispiel hinsichtlich Biomasse und Altersstruktur“, erklärt Dr. Marc Herlyn, Leiter der Norder Arbeitsgruppe, die organisatorisch zur NLWKN-Betriebsstelle Brake-Oldenburg gehört.
Damit die verschiedenen Krebse, Muscheln und Schnecken überhaupt auf den Untersuchungstisch kommen können, hieß es einen Tag vorher: früh aufstehen! Mit dem Mehrzweckschiff „Leyhörn“, an sich gedacht für die Schadstoffunfallbekämpfung, ging es für Herlyn und sein Team rund 15 Kilometer hinaus ins Norderneyer Rückseitenwatt. Hier, auf der sogenannten Lütetsburger Plate, einer Sandbank zwischen dem Festland und der Insel Norderney, werden bereits seit 1994 Untersuchungen der örtlichen Muschelbank vorgenommen. Seit 2004 kehren die Biologen aus Norden jeweils im Frühjahr und Herbst hierher zurück, um – dick eingepackt in Wathose und Schwimmweste – Proben der vorgefundenen Fauna zu sammeln. „Im Gelände werden zudem unter anderem Lage, Ausdehnung und Besiedlungsdichte der Muschelbank genau erfasst“, sagt Herlyn.
Seit zwei Jahrzehnten stoßen die Norder Forscher dabei immer öfter auch auf die Pazifische Auster (Crassostrea gigas). Die Ende der 1990er-Jahre aus künstlich angelegten Austernkulturen im Bereich der Oosterschelde eingewanderte Art hat sich auf der Lütetsburger Plate inzwischen neben der heimischen Miesmuschel (Mytilus edulis) häuslich eingerichtet. „Am Beispiel der durch uns erfassten Bestandsentwicklungen wird deutlich, dass die Miesmuschel in den vergangenen Jahren nicht durch die eingewanderte Art verdrängt worden ist, sondern beide Arten in den Muschelbänken koexistieren“, sagt Herlyn.
Die Untersuchungen im Norderneyer Watt sind Bestandteil der überblicksweisen Überwachung des Makrozoobenthos an der niedersächsischen Küste. Eingebunden sind sie in das Bund-Länder-Messprogramm für die Meeresumwelt von Nord- und Ostsee (BLMP) und den Bewirtschaftungsplan Miesmuschelfischerei im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer.